Volver
4. Juni 2005, Neue Zürcher Zeitung
Spielen - der wiederentdeckte Kitt zwischen den Generationen
Umgang mit Kindern im Umfeld von Stress, Egoismus und neuen Allianzen
Das intergenerationelle Verhältnis ist heute vermehrt Gegenstand von Forschung und pädagogischer Intervention, ist doch infolge gesellschaftlichen Wandels und demographischer Entwicklung Selbstverständliches wie das gemeinsame Spiel gefährdet. Bewährtes wird heute neu erfunden oder aktiviert. Angesichts sinkender Geburtenraten wird in der postindustriellen Welt nach Wegen einer Trendumkehr gesucht.
He. Fragen der Demographie stehen zunehmend häufiger im Brennpunkt der Aufmerksamkeit von Sozial- und Erziehungswissenschaften. Den Anstoss zu diesem gesteigerten Interesse gaben Ökonomen. Wo die Renten nicht mehr gesichert scheinen, wird das Private - die Anzahl Kinder pro Frau - auf einmal politisch, das Politische erprobt seinen Einfluss auf das Private.
In Deutschland ist bereits jede dritte Frau kinderlos, bei Akademikerinnen sind es gar 40 Prozent. Die Geburtenrate ist auf 1,37 Kinder pro Frau gesunken, erst mit 2,1 bleibt die Bevölkerung stabil. Die westliche Welt produziert nach einer weit verbreiteten Meinung nicht nur zu wenig Nachwuchs. Es fehlt auch an Rezepten, wie mit diesem umzugehen sei, wenn er einmal da ist.
An einer vom 2002 gegründeten Lego Learning Institute (LLI) organisierten Tagung in Berlin wurde das Thema des intergenerationellen Umgangs beleuchtet. Die Forschungsabteilung des dänischen Spielzeug-Konzerns dokumentiert und analysiert mit Hilfe eines internationalen Netzwerks von Pädagogen und Psychologen Erkenntnisse über die kindliche Entwicklung, wobei die Aspekte Spielen, Lernen, Kreativität, Phantasie und Vertrauen im Vordergrund stehen.
Die Familie - seit langem im Umbruch
Dem Lamento über die Misere der Kindererziehung, die dem heutigen Zerfall der Familie angelastet wird, stellte der Soziologe Hans Bertram, Ordinarius an der Humboldt-Universität Berlin, eine historische Rückschau entgegen. Bereits Tocqueville oder auch Dickens entwickelten eine Vision davon, wie die Kindererziehung durch gleichberechtigte Ehepartner erfolgen sollte - als Gegenprogramm zu einer Realität, welche die Familie als äusserst unstabil erlebte.
Während der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre waren amerikanische Soziologen rasch mit der Erklärung zur Hand, die Familie stecke in einer tiefen Krise als Folge der Urbanisierung des Lebens und der wachsenden weiblichen Berufstätigkeit. Scheidungsrate und Jugendkriminalität seien höher denn je. Nach dem Zweiten Weltkrieg diagnostizierten deutsche Soziologen einen Wertezerfall als Folge der «vaterlosen Gesellschaft» (Mitscherlich). Für das Deutschland des 20. Jahrhunderts zeigte Bertram auf, dass die Erwerbsbeteiligung der Mütter schon früh viel höher - im Westen bei 50 Prozent, im seit je ärmeren Osten schon vor der kommunistischen Herrschaft bei 70 Prozent - war als gemeinhin angenommen. Die Familie mit dem Vater als Ernährer und der Mutter als Erzieherin war selbst in den fünfziger und sechziger Jahren (der Zeit der «intakten» Familie) nur für die Hälfte der Kinder die Norm.
Postindustrielle Zwänge
In der postindustriellen Gesellschaft sind in der Regel zwei Einkommen nötig, um einen Familienhaushalt zu sichern. Kinder unter sechs Jahren, vor allem im Einelternhaushalt, stellen in den USA wie in Deutschland fast die Hälfte der unter der Armutsgrenze Lebenden. Nicht mehr die Klassenzugehörigkeit allein, auch die Familienform entscheidet heute darüber, ob man arm ist oder nicht. Familien, bei denen nur ein Elternteil einer Lohnarbeit nachgeht, sind inzwischen prinzipiell armutsgefährdet. Die These von James Coleman, wonach Eltern aufgrund der Erwerbsarbeit der Mütter immer weniger für die Entwicklung der Fähigkeiten ihrer Kinder tun, widerlegte Bertram: Heutige Eltern haben ihre Anstrengungen, in das soziale Kapital der Kinder zu investieren, nicht vermindert, sondern anders organisiert. Auch führe die Pluralisierung der Werte nicht zu einer Erziehungskrise, sondern dazu, dass innerhalb der Familien Aufgaben und Rollen von Fall zu Fall ausgehandelt würden, was wechselseitigen Respekt voraussetze. Freiheitsspielräume nehmen zu, Konflikte werden nicht mehr autoritär gelöst, aber die Familien werden dadurch nicht stabiler.
Perfektionismus oder Laissez-faire?
Junge Eltern praktizieren tatsächlich verschiedene Stile bei der Integration ihrer Kinder in das eigene Dasein. Viele sind perfektionistisch, wollen pädagogisch alles korrekt machen und haben trotzdem oder gerade deshalb stets ein schlechtes Gewissen. Umfragen versuchen zu ergründen, warum das Kinderaufziehen heute angeblich besonders schwierig ist. In Deutschland verplanen 15 Prozent der Eltern die Kindheit ihres Nachwuchses lückenlos, weil sie selber sehr leistungsorientiert sind. Sie stellen damit Anforderungen, die viele der Kleinen kaum erfüllen können. Stress ist denn auch ein häufig gebrauchtes Wort, wenn Schüler und selbst Vorschulkinder ihre eigene Situation beschreiben. Weitere 15 Prozent der Eltern empfinden ihre Kinder als störend, weil sie selber Beziehungsprobleme haben. Zunehmend mehr Väter und Mütter lieben ihren Nachwuchs zwar sehr, wissen aber nicht, wie sie mit ihm umzugehen haben, und sind deshalb völlig permissiv.
Kinder fallen immer häufiger in eigentliche Betreuungslücken. Die «Zeit»-Redaktorin Susanne Mayer fasste das in Zahlen: Kinder haben in Deutschland pro Jahr 88 Tage, Eltern nur 33 Tage Ferien. Dass hier neben professioneller Fremdbetreuung auch die Grosseltern einspringen könnten, deren Spielraum am Lebensabend wächst, scheint logisch. Doch viele Senioren sind so rüstig, dass sie ihrerseits verplant sind mit Reisen und Kursen. Gleichzeitig gerät die mittlere Generation angesichts schwindender Löhne und längerer Arbeitszeiten unter Druck. Eine alleinerziehende Mutter bezahlt mehr Steuern als ein Rentnerehepaar. Hat heute in Deutschland ein Fünftel der Rentner keine Nachkommen, werden das in 20 Jahren bereits 60 Prozent sein. Ein Potenzial an Leben(szeit), das vermehrt der Enkelgeneration gewidmet werden könnte.
Senioren in der Kinderbetreuung
Das Spielen zwischen den Generationen erforscht die Erziehungswissenschafterin Dorothy G. Singer (Yale University), die in Berlin über in Amerika gewonnene Erkenntnisse berichtete. Die meisten Erwachsenen hätten vergessen, wie lebenswichtig das Spielen ohne Nützlichkeitszweck sei. Goethe habe seine Kreativität zu einem grossen Teil einem Marionettentheater, einem Geschenk seiner Eltern, zu verdanken gehabt; Tolstoi sein narratives Talent einem Geschichtenerzähler, der regelmässig zu seiner blinden Grossmutter kam, um sie zu unterhalten.
In den USA sind 13 Millionen Vorschulkinder und 6 Millionen Schulkinder täglich in ausserhäuslicher Obhut. Singer zitierte aus einer Studie über Betreuungszentren für Kinder zwischen drei und fünf Jahren, wie sie manchen Universitäten, Sozialagenturen oder Kirchen angegliedert sind. Die in diesen nicht profitorientierten Einrichtungen betreuten Kinder bilden nach Ethnien und Sozialstatus gemischte Grossgruppen. Von den freiwillig oder für ein minimales Entgelt tätigen Betreuern, die befragt wurden, waren nur wenige um die 50 Jahre alt und geschult. Mehr als die Hälfte war in den Sechzigern, ein Viertel in den Siebzigern und 10 Prozent in den Achtzigern. Die meisten waren weiblich, weiss und englischer Muttersprache, die Hälfte hatte eigene Enkel.
Die Evaluation zeigte, dass ältere Menschen ihre Aufmerksamkeit über längere Perioden aufrechterhalten konnten als jüngere. Die Senioren brachten den Kindern unter vier Augen bei, wie sie sich zu benehmen haben, und vermieden mangels Erfahrung Gruppendiskussionen und -konflikte. Auch griffen sie eher in einen Streit ein, als dass sie Kinder einen solchen untereinander regeln liessen. Ältere Betreuer sind - anders als professionelle - parteiisch und zeigen Vorlieben für einzelne Kinder offen. Und sie unterstützen Lernschritte via Imitation und Hilfsangebote, jüngere lassen die Kinder selber nach Problemlösungen suchen. Die Senioren übernahmen im Laufe der auf fünf Monate angelegten Studie gewisse Methoden des jüngeren Personals.
Erfolg mit altmodischem Spielzeug
Eines der signifikantesten Ergebnisse war, dass ältere Freiwillige den Kindern weitaus mehr Unterstützung boten bei Sprachproblemen als jüngere. Für fremdsprachige Kinder artikulierten sie das Englische besonders deutlich, generell boten sie Wortschatzerweiterung an und luden die Kinder zum Geschichtenerzählen ein. Und sie zeigten ihnen ihre Zuneigung. Die Kinder nannten denn auch oft ältere Betreuungspersonen «Grossmutter» und wollten nach einer Kränkung von diesen getröstet werden.
Eine gesonderte Erhebung ergab, dass sich ältere Betreuer in ihrer Selbstachtung gestärkt fühlten, während jüngere (geschulte) die Aufgabe als Job ansahen. Ältere Helfer ermuntern die Kinder häufiger beim Lösen gestellter Aufgaben, und sie haben mehr Körperkontakt, während die jüngeren zurückhaltender sind und befürchten, jede Berührung könnte als Einstieg in sexuellen Missbrauch gedeutet werden. Ältere beschwichtigen Kinder mit direkten Aufforderungen (Sei lieb!) oder mit Ablenken durch eine andere Tätigkeit, während jüngere mit den Kindern deren Verhalten diskutieren. Die Senioren lesen den Kindern gerne vor und geben ihnen sprachliche Hilfe beim Beschreiben von Bildern und beim Erlernen neuer Wörter.
Frau Singer beobachtet seit längerem das phantasiegeleitete Spiel von Erwachsenen und Kindern, das Kreativität, Flexibilität, Sprachentwicklung und soziale Kompetenz (teilen, sich gegenseitig helfen) unterstützt. Auch die Kontrolle von Gefühlen und die motorischen Fähigkeiten werden gefördert, indem beim Spielen Handlungsschritte laufend beschrieben, die Kinder zum Kommentieren eingeladen werden.
Die Studien belegen, dass das intergenerationelle Spiel das kognitive, soziale, physische und emotionale Wohlbefinden steigert - bei den Kindern wie bei den Erwachsenen. Die diesbezüglich erfolgreichsten Spiele waren ausnahmslos altmodisch - Bilderbücher, Puppen, Marionetten, Seifenblasen - und den Senioren von früher vertraut. Das Ergebnis bestärkt die Strategie des Lego-Konzerns, der Entwicklung und Produktion von Hightech-Spielzeug wieder eingestellt hat.
Recht auf Spiel - so wichtig wie trivial
Die Pädagogen der Yale University stellten Handbücher und Videokassetten her mit Anleitungen, wie man mit traditionellem Spielen Schulreife bei Vorschulkindern erzielt. Das «Restaurant-Game» etwa, bei dem ein Kindergeburtstag gefeiert wird, zeigt, wie man den Tisch deckt, Bestellungen entgegennimmt, Zahlen addiert und Manieren lernt. «Bus zum Zoo» ist ein Orientierungsspiel, in dem ein verloren gegangener Affe zurück in den Tiergarten begleitet wird. Beim «Submarin»-Spiel wird ein versunkener Schatz entdeckt, die Fundstücke werden auf Papier gezeichnet, ausgemalt und ausgeschnitten (Feinmotorik!). Mit diesen Spielen erzielten Eltern und Tagesmütter die besten Resultate, denn sie wendeten mehr Zeit und Sorgfalt auf als das geschulte Personal.
Die International Play Association (IPA) hält, zu Gast beim Deutschen Kinderhilfswerk Berlin, vom 16. bis 22. Juli ihre Jahreskonferenz ab. Das Thema, über das sich gegen 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus allen Kontinenten austauschen werden, lautet «Recht auf Spiel». Die Organisatoren berufen sich nicht nur auf das Einsteinjahr, sondern auch auf Schiller («Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt») und auf Novalis, der mit der Aussage zitiert wird: «Spielen ist Experimentieren mit dem Zufall.»
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